Samstag, 3. September 2016

Rezension: Gehe hin, stelle einen Wächter



Titel: »Gehe hin, stelle einen Wächter« von Harper Lee (erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt)

Preis: 19,99€ (Hardcover)
          10,00€ (Taschenbuch)

Bewertung: 5/5

Klappentext: Jedes Jahr reist Jean-Louise Finch aus dem mondänen, aufgeklärten New York zurück in ihre Heimatstadt Maycomb im Süden der USA, um den Sommer bei ihrer Familie zu verbringen. Doch diesmal ist etwas anders als sonst: In dem beschaulichen Städtchen breiten sich Rassenunruhen aus, und Jean-Louise wird fassungslos Zeugin, wie ihr Vater Atticus in der ersten Reihe steht. Die bewegende Geschichte einer Tochter, die sich von ihrem geliebten Vater emanzipieren muss, um zu sich selbst zu finden; ein Zeitdokument tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche und ein literarischer Fund, der seinesgleichen sucht.

Meinung:

Da »Wer die Nachtigall stört …« für mich eins der besten Bücher ist, die ich je gelesen habe, war »Gehe hin, stelle einen Wächter« eigentlich ein Pflichtkauf. Ich habe das allerdings eine Weile hinausgezögert, da es von Harper Lee ja nur diese beiden Bücher gibt und das zweite und letzte wollte ich mir so lang wie möglich aufheben.

Dieses Buch spielt nun knapp 20 Jahre nach seinem Vorgänger. Die kleine Scout ist nun eine erwachsene Frau, will auch nicht mehr Scout genannt werden, sondern Jean Louise und lebt nun in New York. Ein Mal im Jahr kehrt sie aber in den Süden nach Maycomb zurück. Als sie dieses Mal allerdings in ihre alte Heimat zurückkehrt, hat sich vieles verändert. Ganz besonders ihr Vater Atticus. Der Mann, der früher Jean Louises Held war, scheint sich nun tatsächlich für Rassentrennung zu engagieren und Jean Louise ist natürlich außer sich.


"Hätte sie einen Blick fürs große Ganze gehabt, hätte sie die Grenzen ihrer höchst selektiven Inselwelt durchbrechen können, dann hätte sie möglicherweise erkannt, dass sie schon ihr Leben lang einen Sehfehler hatte, den sie und die Menschen, die ihr nahestanden, nicht wahrgenommen oder übergangen hatten: Sie war farbenblind."


Auch wenn sie den Spitznamen aus ihrer Kindheit abgelegt hat - Jean Louise ist im Prinzip immer noch die Scout, die wir in »Wer die Nachtigall stört …« kennengelernt haben. Auch wenn sie erwachsener geworden ist, ist sie immer noch ein Wildfang, stur und lehnt alles Damenhafte ab. Die Ehrlichkeit und Offenheit, die sie nicht verloren hat und mit der sie noch immer die Welt betrachtet, ist bewegend wie immer. Das war für mich schon im Vorgängerroman am charakteristischsten und auch am schönsten. Harper Lee schreibt so direkt, ehrlich und trotzdem sehr besonnen, dass es einem als Leser fast schon leicht vorkommt, sich mit so schwierigen Themen auseinanderzusetzen.


»Die Insel eines jeden Menschen, Jean Louise, der Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen. So etwas wie ein kollektives Gewissen gibt es nicht.«


Dieses wunderbar besonnene Gefühl einer Kleinstadt-Kindheit wird auch in »Gehe hin, stelle einen Wächter« wiederbelebt, denn Jean Louise trifft einige alte Bekannte wieder (wobei ich sagen muss, dass ich manche auch etwas vermisst habe), besucht Orte, an denen sie früher viel Zeit verbracht hat und erinnert sich an viele Erlebnisse zurück. Dadurch entsteht auch ein meiner Meinung nach wirklich toller Kontrast - einerseits eben diese schönen Erinnerungen und andererseits der plötzlich Konflikt mit Atticus in der Gegenwart. Das gibt dem Buch eine ganz neue und eigene Atmosphäre, ohne sich komplett von dem Vorgänger zu unterscheiden beziehungsweise loszusagen. 

(Wobei »Vorgänger« hierbei ja eigentlich nur handlungsmäßig der richtige Begriff ist, denn eigentlich wurde »Gehe hin, stelle einen Wächter« vor »Wer die Nachtigall stört …" geschrieben und lediglich viele Jahre später veröffentlicht.)

Dazu kommt natürlich noch dieser unglaubliche Schreibstil, der seinesgleichen sucht. Ich denke, Harper Lee’s Fähigkeit sich so einzigartig auszudrücken, ist einer der wichtigsten Gründe für ihren weltweiten Erfolg. Sie bringt einen zum schmunzeln, zum nachdenken, zum weinen und schafft es wie keine andere, das Lebensgefühl der damaligen Zeit festzuhalten und zeitlos werden zu lassen.

Denn obwohl sich besonders in »Gehe hin, stelle einen Wächter« viele Gespräche um die politische und gesellschaftliche Lage dieser damaligen Zeit drehen, die mit der heutigen wenig gemein hat - das Fazit, das man aus diesem Buch ziehen soll, ist allgemeingültig und an kein Jahrzehnt oder Jahrhundert gebunden. Ich denke, das begeistert mich auch so sehr an dem Buch. Es trifft nicht nur eine politische und gesellschaftliche Aussage, es ist gleichzeitig auch sehr persönlich. Es dreht sich nicht »nur« um Rassismus und Rassenunruhen, sondern auch um die persönliche Entwicklung eines jeden Menschen. Und das Erwachsenwerden und darum, dass wir begreifen müssen, dass unsere Idole auch nur Menschen sind. Und Menschen sind nunmal voller Makel und Eigenheiten.


»Er hat dich deine Ikonen nacheinander zerschlagen lassen. Er hat sich von dir wieder auf die Ebene eines menschlichen Wesens herunterholen lassen.«


Ich denke, es ist offensichtlich, was für eine Meinung ich zu diesem Buch habe. Ich habe jede Zeile genossen und kann es, natürlich in Verbindung mit »Wer die Nachtigall stört …« nur jedem ans Herz legen. Egal, welches Genre man gern liest, Harper Lee’s Werke gehören definitiv zu der Kategorie »Bücher, die man gelesen haben sollte«.

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